echte Liebesgeschichten gehen nie zu Ende | die Geschichte von Oma & Opa

Liebesgeschichten sind das, was mich an meinem Beruf als Hochzeitsfotografin begeistert. Dieser besondere Zauber, der von jeder Geschichte ausgeht, berührt mich immer wieder und so war es für mich klar, dass auch meine Marke „Liebesgeschichten“ heißen sollte. Wer mich kennt, der weiß zudem, dass meine größte Inspirationsquelle meine Oma & mein Opa sind. Sie sind meine Vorbilder in so vielen Dingen. Und so wie es sein soll sind sie mittlerweile über 55 Jahre verheiratet und lieben sich nach wie vor so sehr. Eine kleine Anekdote: vor ein paar Jahren, als Oma im Krankenhaus war, hat Opi ihr aus Teelichtern „ich liebe dich“ auf den Wohnzimmertisch geschrieben, weil er sie so vermisst hat. Das hat die Omi so gerührt, dass es ganz egal war, dass danach der Tisch Brandflecken hatte :-D

In diesem Sinne teile ich heute ihre Kennenlerngeschichte mit euch. Als Inspiration, dass jede große Liebe einen ganz besonderen Anfang hat, und dass echte Liebesgeschichten nie zu Ende gehen! Ganz viel Freude beim Lesen!

1956

Sie stand vor dem Spiegel und knöpfte sich das Kleid zu, das sie sich extra für diesen Anlass genäht hatte. Hellblau und aus feinem Leinenstoff, mit weißem Spitzenkragen, ihr ganzer Stolz und sicherlich dieses Abends würdig. Er wollte mit ihr Tanzen gehen, zum ersten Mal offiziell als Paar, nachdem er sie seiner Mutter vorgestellt hatte. Ihr Herz klopfte bei dem Gedanken daran und sie musste lächeln. Dann holte sie tief Luft, strich noch ein letztes Mal den Rock glatt, ehe sie das Haus verließ und sich auf den Weg zu ihm machte.

*

Die Sonne stand hoch am Himmel und brach immer wieder durch die Blätter der alten Buchen, die schon am Wegesrand gestanden hatten, als er noch ganz klein war. Sein Fahrrad wirbelte den Staub auf der Straße auf, als er scharf um die Kurve fuhr.
„He, pass‘ doch auf!“, ertönte plötzlich eine Stimme direkt neben ihm, gemeinsam mit dem Quietschen alter Gummireifen und dem scharrenden Ton der Bremsen auf dem Boden.
Er hatte sie gar nicht kommen sehen, so sehr war er in Gedanken gewesen. Und noch ehe er ganz begriffen hatte, was geschehen war, radelte sie auch schon an ihm vorbei und fuhr einfach weiter. Ihm war nicht klar, ob es die Hektik dieses Moments, der Schreck über den Beinahe-Zusammenstoß oder aber ihre wunderschönen tannengrünen Augen waren, die ihn innehalten ließen. Er schaute ihr hinterher, wie sie in der Ferne verschwand, schon jetzt nur noch ein kleiner Fleck am Horizont. Was war das für ein Gefühl, das eine einzelne Sekunde auslösen konnte? Weniger als 3 Sekunden hatte sie ihn angeschaut, noch dazu wahrlich nicht sehr freundlich, vielmehr voller Entrüstung über seine Unachtsamkeit, und dennoch … irgend etwas war mit ihm geschehen. Wer auch immer sie war, er musste sie wiedersehen.

*

Mit langsamen Schritten ging sie die Auffahrt hinauf. Der Kies unter ihren Füßen knirschte leise, konnte ihr Herzklopfen aber kaum übertönen, als sie vor der Eingangstür noch einmal innehielt, um sich die beruhigenden Worte seiner Cousine ins Gedächtnis zu rufen, die die beiden einander vorgestellt hatte.
„Was soll denn schon passieren?“, hörte sie wie ein Echo die freundliche Stimme in ihrem Kopf, „du bist doch ein anständiges Mädchen, hast gute Noten und bist in vielen Dingen talentiert, es gibt nichts, was sie gegen dich sagen könnte!“
Von diesen Gedanken ermutigt hob sie die Hand, um an die Tür zu klopfen.

*

„Hallo? Hörst du mir überhaupt zu? Wo bist du mit deinen Gedanken?“
Er schreckte aus seinen Tagträumen hoch, als sein bester Freund ihn lachend in die Seite knuffte.
„Entschuldige, was hast du gesagt?“
„Ich wollte wissen, mit wem du zum Tanzball gehst, daraufhin haben deine Wangen die Farbe des Apfels angenommen, den du gerade gegessen hast, weshalb ich die Vermutung in den Raum gestellt habe, dass du schon jemanden im Auge hast?“
Sein Freund schaute ihn erwartungsvoll grinsend an, woraufhin er verlegen mit dem Schuh im Sand ein Muster zog.
„Mir ist da letztens so ein Mädchen begegnet. Also vielmehr habe ich sie fast überfahren, als ich auf dem Weg zur Arbeit war. Jedenfalls … also … sie trug so ein wunderschönes hellblaues Kleid mit weißem Kragen und ihre Augen waren grüner als …“
„Ach, ich weiß wen du meinst“, unterbrach ihn sein Freund unsanft bei seiner Schwärmerei.
„Die kannst du dir gleich wieder abschminken. Sie ist bereits vergeben.“
Ungläubig starrte er in die Luft.
„Schon vergeben? Aber an wen denn?“, brachte er traurig hervor. Über diese Möglichkeit hatte er überhaupt nicht nachgedacht.
„War in meiner Klasse. Ist ein guter Kerl, den wird sie so schnell nicht gehen lassen, wenn sie schlau ist. Tut mir echt Leid, Mann. Komm, lass uns nach Hause gehen und was trinken. Du brauchst jetzt ein großes Glas Schnaps. Ich kenne das Versteck meines Vaters, er merkt es gar nicht, wenn ich ab und zu etwas davon stibitze, sein Pech!“
Wortlos und bestürzt folgte er seinem Freund, unfähig, die Gedanken an sie ebenso leicht loszuwerden wie das Gefühl der Kontrolle, das er mit jedem Schluck vom Selbstgebrannten ein Stück mehr hinter sich ließ.

*

Kurz bevor ihre Faust das Holz der schweren Eingangstür berührte, drangen plötzlich Stimmen durch das Küchenfenster an ihre Ohren. Sie wollte eigentlich gar nicht zuhören, doch im selben Moment fiel ihr Name, und sie bekam unweigerlich die hitzige Diskussion mit, die im Inneren des Hauses entbrannt war. Es war er, der sich offensichtlich mit seiner Mutter stritt.
„Du weißt so gut wie ich, dass das nicht geht, Junge!“
„Aber Mutter, dafür kann sie doch nichts! Wie kannst du sie für etwas verurteilen, das nicht im geringsten ihre Entscheidung war!“
„Ich verurteile niemanden, aber ich will trotzdem nicht, dass du mit ihr zusammen bist, hast du mich verstanden?“
Was ging dort drinnen vor sich? Ängstlich drückte sie sich an die Hauswand, damit man sie nicht dabei erwischte, wie sie lauschend unter dem Fenster stehen blieb, unfähig, sich zu bewegen. Nicht einmal fortlaufen konnte sie, auch wenn sie gerade nichts lieber getan hätte. Aber sie musste unbedingt wissen, warum seine Mutter ihm den Umgang mit ihr verwehrte. Sie hatte sich doch beileibe nichts zu Schulden kommen lassen! Sie verstand die Welt nicht mehr. Was konnte es geben, das …
„Nein, Mutter, ehrlich gesagt verstehe ich es nicht! Sie ist doch ein gutes Mädchen, das alle Eigenschaften erfüllt, die du dir für deine Schwiegertochter immer gewünscht hast! Sie kann nähen, kochen, sogar Englisch kann sie, was um Himmels Willen willst …“
„Ich will keine Schwiegertochter, deren Mutter geschieden ist! So, jetzt ist es raus. Ich will nicht, dass dieses Schandmal mit unserer Familie in Verbindung gebracht wird.“
Mehr hörte sie gar nicht, so sehr rauschten ihre Ohren vom Blut, das in ihren Kopf stieg bei dem verzweifelten Versuch, die Tränen zu unterdrücken. Sie presste die Hände auf den Mund, um den Schluchzer zu unterdrücken, der ihrer Kehle entfleuchte, dann rannte sie los. Blind vor Schmerz war es ihr plötzlich egal, ob man sie hörte oder sah, sie wollte einfach nur noch weg. Der hellblaue Rock schwang so schnell um ihre Waden, dass sie beinahe stolperte, doch sie hastete unaufhaltsam weiter, laut schluchzend und mit tränennassen Wangen. So bemerkte sie auch nicht mehr, dass er ihr hinterherlief und flehend nach ihr rief. Er hatte sie aus dem Augenwinkel noch weglaufen sehen und war ihr direkt gefolgt, hatte laut geschrien, sie sollte doch stehenbleiben und dass es ihm egal war, was seine Mutter sagte, doch sie hatte sich nicht einmal umgedreht, war einfach immer weiter gelaufen, bis sie unerreichbar für ihn gewesen war.

*

Er saß an der Bar und bestellte gerade noch ein Bier, als sie plötzlich durch die Tür trat. Monatelang hatte er sie nicht mehr gesehen und doch kein einziges Detail ihrer Schönheit vergessen. Wie sie jetzt lachend den Raum betrat und ihr Kleid (diesmal war es dunkelblau mit weißen Punkten) sanft glatt strich, war es ihm, als bliebe für einen kurzen Moment die Zeit stehen. Wie in Trance erhob er sich von seinem Hocker und machte einen Schritt auf sie zu – als sich die Türe ein Stückchen mehr öffnete und jemand sie am Arm berührte, ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen. Schlagartig war der hingebungsvolle Moment vorbei und die Musik drang wieder in ihrer vollen Stärke an seine Ohren, dröhnte beinahe brutal über die Szene, die sich vor ihm abspielte, als er sich dran erinnerte, dass sie ja vergeben war. Das musste er dann wohl sein. Netter Typ, vielleicht 1, 2 Jahre älter als er, stellte er grimmig fest. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Bar, ließ das Bier zurückgehen und bestellte sich stattdessen einen Schnaps.

*

„Komm, ich will endlich tanzen!“, rief sie und hoffte, dass ihr Bruder sie über die laute Musik überhaupt verstand. Doch er ergriff augenblicklich ihre Hand und wirbelte sie im Takt hin und her. Es war das erste Mal, dass sie wieder Lust hatte, auszugehen, nachdem sie als Schandfleck abgetan worden war. Sein Foto hatte sie immer noch an ihrem Bett stehen, konnte die Erinnerung an ihn nicht begraben. Wenn man selbst nicht über ein Ende entscheidet, fällt es einem besonders schwer, loszulassen. Es ist, als zögen alle anderen an dieser Verbindung, und man selbst klammerte sich noch immer an ein Band, das längst zerrissen worden war. Doch hier und heute wollte sie nicht mehr an die Vergangenheit denken. Es war ein schöner Tag und sie war fest entschlossen, Spaß zu haben.

*

„Hey Mann, was tust du denn da? Ich wusste gar nicht, dass man hier Bier nur noch im Schnapsglas ausschenkt, müssen wohl sparen oder wie?“
„Sie ist hier“, brummte er tonlos gegen die neckische Stimmung seines besten Freundes an, der sich soeben neben ihm niedergelassen hatte.
„Was? Wer ist hier?“, fragte der beiläufig, viel mehr darauf bedacht, selbst ein Bier zu bekommen.
„Na sie, die von der ich dir mal erzählt hab, mit dem hellblauen Kleid?“
„Ach, nein, sie ist hier? Hast du sie schon angesprochen?“, fragte sein Freund, plötzlich ungemein interessiert und mit jeder Menge Euphorie in der Stimme.
„Wieso sollte ich sie ansprechen, sie war in Begleitung.“
„In Begleitung? Von einer Freundin?“
„Von einem Mann.“
Da fing sein bester Freund urplötzlich an zu lachen. Er hielt sich mit der einen Hand den Bauch und mit der anderen am Tresen fest, um nicht vom Stuhl zu kippen.
„Jetzt verstehe ich auf die Ansammlung an Schnapsgläsern vor dir. Du dachtest er wäre ihr Freund!“
„Ja was soll er denn sonst auch sein verdammt. Du hast selbst gesagt, dass sie vergeben ist und ich keine Chance hab, schon vergessen?“
„Das war bevor die beiden Schluss gemacht haben“, grinste sein Freund, „möglicherweise habe ich versäumt, dir das zu sagen, aber ich wusste ja nicht, dass sie SO wichtig für dich ist.“
Stumm starrte er geradeaus. Er versuchte, zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte, überlegte, was er jetzt machen sollte. Und dann tat er etwas, was er bisher noch nie getan hatte: er stand auf, leerte das Bier seines Freundes, das soeben serviert worden war, in einem Zug, und ging mit zielstrebigen Schritten auf die Tanzfläche.
*

Nach dem fünften Tanz war ihr richtig warm und sie hatte Durst.
„Würdest du mir etwas zu trinken holen?“, schrie sie atemlos gegen die Musik an. Ihr Bruder nickte nur und ließ sie allein auf der Tanzfläche zurück. Etwas verloren stand sie dort, als das nächste Lied losging und sie schaute sich um. Da fiel ihr ein junger Mann ins Auge, der sie aus einigen Schritten Entfernung ansah. Irgendwoher kam er ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht so recht, wo sie ihn einordnen sollte. Sein Haar war dunkel, seine Augen dagegen strahlend blau wie der Himmel, als sie heute morgen die Vorhänge aufgezogen hatte. Er trug einen einfachen Pullover und eine abgewetzte Hose, seine Hände waren vom Arbeiten stark und schwielig. Sein ernster Blick verwandelte sich in ein unsicheres Lächeln, als er bemerkte, dass sie ebenfalls zu ihm rübersah und sie spürte förmlich, wie er all seinen Mut zusammennahm, um zu ihr rüberzukommen.

*

Dort stand sie, mitten auf der Tanzfläche, mit glänzenden Augen und hochgestecktem Haar, aus dem einige Strähnen in ihr wunderschönes Gesicht fielen, die der Kraft der schnellen Tänze nicht standgehalten hatten. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie bemerkte, dass er sie anschaute und ihm wurde augenblicklich warm ums Herz. Er atmete noch einmal tief ein uns aus, aber er wusste, dass es kein zurück mehr gab. Das war seine Chance und die würde er ergreifen. Mehr als je zuvor wusste er, dass er es tun musste. Er hatte in ihre Augen geblickt und in ihnen seine Zukunft gesehen. Also ging er Schritt um Schritt auf sie zu, mit laut klopfendem Herzen und zittrigen Knien, aber er ging immer weiter, bis er vor ihr stand. Einen kurzen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort, dann durchdrang ihre helle, klare Stimme die Musik, die plötzlich aus weiter Ferne zu kommen schien.
„Hallo“, sagte sie lächelnd.
„Hallo“, sagte er, ebenfalls lächelnd. Sein Mund war ganz trocken und er wünschte sich noch ein Glas Bier, an dem er nippen konnte, bevor er weitersprach. Sie sah ihn erwartungsvoll an und er brachte mit zitternden Lippen hervor:
„Ich bin Willy, und wie heißt du?“
„Mein Name ist Anni.“
„Anni“, sagte Willy lächelnd, schon viel weniger unsicher, und es war, als überprüfe er vorsichtig, wie sich Klang ihres Namens aus seinem Mund anfühlte.
„Möchtest du mit mir tanzen?“
Anni strahlte über das ganze Gesicht und ihre Antwort war wie ein Versprechen, das noch viel weiter reichte als bis zu diesem Moment:
„Liebend gern.“